Aller guten Dinge sind 13.

13 Jahre hier auf WordPress. Was für eine wunderschöne und gleichzeitig unglaubliche Zahl im Zeitalter des Internets. 13 Jahre gibt es mich hier und nicht wenig Zeit davon war diese Präsenz ein enorm großer Teil meiner Persönlichkeit, meines Alltags, meines Lebens, von mir.

Doch der Schuh drückt. Er drückt schon lange aus unterschiedlichen Gründen. Ich bin Paleica seit mehr als zwei Jahrzehnten. Das verwordakelte (wie man es bei uns umgangssprachlich nennt) Anagramm der Muse Kalliope. Die feminisierte und ein bisschen einizigartigere Version der schwarzen Porzellanpuppe aus Andreas Steinhöfels „Die Mitte der Welt.“. Das bin immer noch ich. Aber auch nicht mehr ganz.

Sehr wenig habe ich hier geschrieben in der letzten Zeit, obwohl ich es bitter nötig gehabt hätte. Doch die Umstände ließen es nicht zu. Gleichzeitig krallte ich mich an diese Präsenz und an diesen Namen fest wie Jack neben Rose an den Holzplanken , irgendwo im eiskalten Ozean.

Ich bin Paleica und werde es immer sein. Aber manchmal ist es Zeit die letzte Zeile eines Buches zu schreiben, den Deckel zuzuklappen und einen Punkt an den Epilog des Epilogs zu setzen. Ich glaube, diese Zeit ist gekommen. Die episodenpoesie, ein weiteres verwordakeltes Anagramm von sich selbst, war und ist mein Herzensprojekt, aber das Archiv ist zu schwer geworden, der Rucksack den es mitträgt seit es als Drahtseilakt im Jahr 2008 geboren wurde hängt sich zu schwer an und lastet mit zu großem Gewicht auf weichen Trieben, die entstehen möchten.

Mit ambivalent schwerem und leichtem Herzen, die mir abwechselnd bis zum Hals schlagen, mache ich meine lang schwelende und dennoch kurzfristig getroffene Entscheidung jetzt offiziell und sage Lebwohl, Adieu, auf Wiederseh‘n, Good-bye. Wer möchte findet mich auch anderswo, denn das Internet verbindet, mich zumindest seit 1999.

Thank you for the music.

(Nachtrag: Von April 2008 bis Dezember 2021 wurden hier 1.184 Beiträge geschrieben, zu denen 61.000 Kommentare verfasst wurden. Es war mir eine Ehre.)

So wie man plant und denkt – so kommt es nie.

18 Monate oder eineinhalb Jahre oder 547 Tage seit Corona bei uns angekommen ist. 547 Tage, in denen in meinem Leben das Unterste zuoberst gekehrt wurde, kein Stein am anderen blieb.

Nichts von dem, das heute mein Leben ausmacht, hätte ich vor 547 Tagen so kommen sehen. Es baute sich auf wie ein Tsunami, war plötzlich da, eine Welle, die meine erstarrte und versteinerte Seele brach, freilegte und mir die Chance gab, das bloße Abziehbild, die Blaupause einer Illusion anderer, zu erkennen, zu der mein Leben sich zu entwickeln drohte, das überall rieb und drückte und mich mehr und mehr taub werden ließ.

Ich sprach das lauteste „Nein.“ meines bisherigen Lebens, ohne den Dominoeffekt vorauszusehen. Ich versuchte zu lernen zu akzeptieren, was dann kam, denn es war immer der einzig wahre Weg, wann auch immer ich ihn zu gehen bereit sein würde.

Ich lerne wie ein Kind, jeden Tag, Dinge die zu lernen mir zu einem früheren Zeitpunkt nicht möglich waren, Dinge die für andere genauso normal sind wie Atmen oder Laufen. Doch ich habe erkannt, jeder authentische Weg ist anders und die Beschaffenheit der Steine, die einem in den Weg kullern sehen nunmal auf jedem Weg anders aus – ein Zeichen dafür, dass es wahrhaftig die eigenen Steine sind. Doch die sind auch die schwersten. Die scheinbar unüberwindbarsten.

Während es von außen wie ein Spaziergang wirken mag, wähnt man sich selbst mitten in Mordor, kurz vor dem letzten Aufstieg zum Schicksalsberg und spürt den Sog des Ringes, von dem sich das Innerste kaum zu trennen vermag. So wissen wir genau: ein Happy End gibt es nur, wenn Samweis uns ein Stück des Weges trägt und uns ein wenig vom Gewicht des Einen Ring abnimmt, denn alleine schafft man solche Reisen nicht.

Das Puzzle meiner Biografie war seitlich an den Abgrund gerutscht, nass vom Abwasser und den Tränen, die Teile verbogen, schief und nicht mehr passend. Es war Zeit, das Bild in die Tonne zu treten, Zeit, ein neues zu zeichnen, neue Teile zu schaffen, zu brechen, zu kleben.

Wie die meisten beim Puzzlen, beginne auch ich am Rand. Die Ecken und Kanten kann ich langsam erkennen. Von allen Seiten arbeite ich mich nach innen und fülle die weißen und schwarzen Flecken mit Erinnerungen, mit Wünschen und Plänen. Vieles ist noch löchrig, aber das Motiv wird langsam erkennbar.

Jetzt oder für immer.

Das Schwierige für die, die noch da sind, ist ja nicht, dass ein Mensch jetzt gerade nicht da ist. Das Schlimme ist, dass dieser Mensch nie mehr da sein wird. Nie mehr ist eine lange Zeit. Darum hilft es ein wenig, nicht in so großen Dimensionen zu denken, sondern im Kleinen. Jetzt bist du nicht da. Nicht daran denken, dass du auch morgen nicht da bist, oder an meinem Geburtstag oder an deinem oder dass ich deine Stimme nicht mehr hören werde oder daran, dass ich dir nicht erzählen kann, dass ich meine Ausbildung abgeschlossen haben werde oder dass mich jemand wieder zum Lachen bringt. Jetzt bist du nicht da. Morgen ist ein neues jetzt. Und übermorgen auch. Bis ein wenig Zeit vergangen ist, vergangen sein wird und ich weniger daran denke, dass du jetzt nicht mehr da bist, sondern dass du einmal da warst.

Bilder aufgenommen in Vorarlberg – Bregenzerwald: Diedamskopf am Morgen

Manche Glaskugeln findet man leichter als andere: 13 Jahre Paleica auf WordPress

Am 4. Mai begann ich einen Artikel zu schreiben mit meinen Lieblingsfotos aus dem letzten Winter, einem lang gehegten Fotowunschmotiv, das ich mir in diesem Jahr endlich erfüllen konnte. Ich schrieb ihn nie fertig. Dabei…

…ist es: Ein ganz besonderes Jahr mit einer besonderen Zahl: im April waren es 13 Jahre Paleica auf WordPress (eine meiner Lieblingszahlen) und ein runder Geburtstag im Internet: denn vor 20 Jahren wurde dieser Nickname geboren, auch wenn ursprünglich mit k geschrieben. Zwei Jahrzehnte begleitet mich diese Identität nun, mehr als die Hälfte davon auf dieser Plattform und deutlich mehr als die Hälfte meines Lebens gibt es dieses Alter Ego, das Pseudonym zum Texteschreiben. Früher waren nur Buchstaben relevant, zwischenzeitlich fast nur Bilder und im Moment ist es eine Mischung aus beidem. Visuell und auditiv, Kopf-, Herz- und Bauch, querbeet, durch Höhen und Tiefen, durch Hypes und Krisen.

So laut und so verloren war es hier
Als Stille bei uns wohnte anstatt dir

Jupiter Jones

Heute habe ich viele Gedanken im Herzen, viele Gefühle im Kopf, viele Worte in der Seele aber immer noch keinen Text. Werden die Zeiten für einen Text an dieser Stelle wieder kommen? Ich weiß es nicht. Heute nicht. Aber es ist Zeit für diese Bilder. Mit einer Glaskugel, die keine Zukunft voraussagen kann. Mit blitzblau, das aus meiner Welt gestern verschwunden ist.

Freedom is just another word for nothin‘ left to lose.

Janis Joplin

(Aber wenn es nicht mehr viel zu verlieren gibt, kann man vielleicht wieder so manches gewinnen.)

Blätter- und Gedankenwirbel

Ein Jahr Pandemie. Genauer gesagt: 1 Jahr und 1 Woche oder 53 Wochen oder 373 Tage seit dem ersten Lockdown. 374 Tage seit ich das letzte Mal – mit schlechtem Gewissen zwar, aber doch, eine Freundin umarmt habe, völlig fassungslos, dass das was kommt real ist. Ein totales Lahmlegen von so gut wie allem, das mein Privatleben ausgemacht hat. Fragezeichen, so viele Fragezeichen.

53 Wochen später ist mein Leben anders. Ich kann mich nur noch schwach an den Geruch von Theater erinnern oder daran, wie es ist, mit Freunden abends Essen zu gehen, erst kurz vor dem Schlafen ins Bett zu fallen, Reisen zu planen und die seltsame Nicht Ort-Stimmung von Flughäfen zu spüren oder Livemusik zu hören. Es ist nur ein Jahr und doch ist es eine Ewigkeit, in der sich Vieles neu geformt hat und neue Realitäten entstanden sind.

Vieles ist weggefallen und anderes ist geblieben. Meine Liebe zu tiefstehender Sonne zum Beispiel und die zu guten Geschichten. Es gibt viele Geschichten darüber, wie ProtagonistInnen Zäsuren in ihrem Leben erleben, was es mit dem Leben und einem selbst macht wenn plötzlich alles anders ist, dass es schmerzhaft und beschissen ist, aber auch Chancen bietet, wenn man Glück hat.

Manchmal tut es gut, Zeit an Orten zu verbringen, an denen sich nicht viel verändert hat. Schönbrunn ist immer da und immer gleich, auch wenn weniger Touristen da sind und am Vorplatz kein Christkindlmarkt stattgefunden hat, hinter dem Schloss, zwischen den Alleen, da merkt man nicht viel von Pandemie. Menschen spazieren und joggen und Kinder wühlen in den Blättern oder Kieselsteinen und Krähen und Enten diskutieren und plaudern miteinander. Bis auf die Krähen und Enten halten auch zumindest die fremden Gruppen die Abstände ein. Zwischen all den vertrauten Geräuschen kann man sich gut und gerne mal verlieren, im Leben einer anderen. Zum Beispiel im Leben von Claire, die an einem magischen Ort in Schottland verloren geht und 200 Jahre in der Geschichte zurückreist. Denn wenn der Pandemie-Blues zuschlägt und man keine Lust auf backen hat, dann hilft ein Spaziergang draußen mit einer dieser Geschichten im Ohr. Audible machts möglich – denn mit der Hörspielapp kann man sich mit Claire und Jamie im Ohr durch die Lichtflecken der Sonne leiten lassen, die durch die Blätter leuchten, heute, in Wien und damals, in Schottland.

Wir leben in einer seltsamen Zeit. Hätte man mir an Silvester zu 2020 erzählt, wie mein Leben nur wenige Monate später aussehen würde, ich hätte es für ähnlich wahrscheinlich gehalten wie eine Zeitreise. Doch wie man plant und denkt, so kommt es nie. Und immerhin – die bunten Blätter und schönen Gärten sind da, wie eh und je, trotzdem allem, was um sie herum passiert und warten darauf, ihre Pforten wieder zu öffnen.

In freundlicher Zusammenarbeit mit Audible.

Mohnblumentraum Und Gedanken zum Sitz der Seele

Die wunderbare Mitzi hat mich (mal wieder!) zu einem Text inspiriert. Oder einer Gedankenspielerei. Ob ein Text daraus wird, wird man erst sehen. Aber das ist ja immer so. Da ist ein Gedanke, der formt sich zu Worten und auf einmal, da kitzelt es im Kopf und in den Fingern und ich fange an zu tippen. Manchmal euphorisch in einem bis zum Ende. Manchmal nur einen Absatz, den ich Tage oder Wochen später kopfschüttelnd lösche und manchmal entwickelt sich irgendwas dazwischen. Wir werden ja sehen.

Die Mitzi (ja, so sagt man das bei uns in Wien), die ist ein Bauchmensch. Sie ist da sehr überzeugt davon. Wunderschön wie sie das beschreibt. Warum sich ihre Seele im Bauch am wohlsten fühlt, nicht im Kopf, nicht im Herzen, nicht in den Augen oder gar in den Armen oder Beinen. Ich kam fast dazu mich zu fragen, warum überhaupt jemand etwas anderes als ein Bauchmensch sein kann und dachte mir dann, klar, das stimmt für mich auch. Aber dann dachte ich, hm. Kopfmensch, zwar nicht als solche geboren, aber irgendwie dazu geworden. Und Herzmensch, ja, irgendwie auch, denn letztlich ist es ja doch das Herz, dem zu folgen ich mir als oberstes Ziel gemacht habe. 

Auch darauf hatte Mitzi eine Antwort: „Du bist vielleicht ein verkopfter Herzensmensch, der auf sein Bauchgefühl hört?“ Ich glaube, das gefällt mir. Ich lass das so.

(Und was die Bilder betrifft: ich dachte, ein bisschen frühlingshafte Farbtupfer schaden nicht in der aktuellen und farblosen Eiseskälte, brr!)

Fotoparade 2020 Spezial – Coole Bilder trotz Corona!

Lange ist es her, dass ich einen „einfach so“ Post erstellt habe. Einfach um der Bilder willen. Die letzten Monate – wenn nicht vielleicht sogar mehr – haben irgendwie nach mehr Schwere verlangt. Nach mehr Text, Gedanken und Anlass. Aber die Idee von Michael, seine Reise-Fotoparade diesmal offener zu gestalten und die TeilnehmerInnen zeigen zu lassen, was sie auch während dieser reiseeingeschränkten Zeit erlebt haben, gefällt mir – und deswegen will ich doch glatt auch mal wieder dabei sein.

Bisher habe ich ja 3x dran teilgenommen – 2017 Teil 1, Teil 2 und beim ersten Teil 2018.

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Mein Wort für 2021 oder Zentralfriedhof im Herbst: Details

In einer Retrospektive über die 10er Jahre, die ich letztlich nie veröffentlicht habe, schrieb ich als Abschluss:

Meine 10er Jahre waren eine sprichwörtliche Odyssee, weg von meinem Exbeziehungsschlachtfeld, durch stürmische Gewitter, bis ich endlich wieder in mir zuhause ankommen durfte. Und mit „in mir ankommen“ meine ich keineswegs ankommen, denn indem ich all meine Personas endlich einmal zu fassen bekommen und dank schwarzer Tinte unter der Haut endlich zumindest in einer Schnittmenge dingfest machen konnte, bin ich bereit, aufzubrechen, auf meinen eigenen Weg. Mögen die Twenties roaring werden, mögen wir lachen, aber auch weinen, uns streiten, miteinander lachen, lieben, leben und vor allem: immer bei uns bleiben.

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Das war 2020: mein Jahr mit dem Wort „Selbstvertrauen“

Wie schreibt man ein Fazit über ein Jahr wie dieses? Als ich im Jänner mein Wort „Selbstvertrauen“ definierte und meine Gedanken dazu hier veröffentlichte ahnte ich noch absolut gar nichts davon, was auf mich zukommen würde. Ich dachte, mein Leben wäre endlich auf Schiene, endlich – so dachte ich – war ich auf allen Ebenen dorthin unterwegs wo ich vorhatte unterwegs zu sein. Und 2020 so: hold my beer (wo kommt eigentlich dieser seltsame Meme her?) Das war 2020: mein Jahr mit dem Wort „Selbstvertrauen“ weiterlesen

Eins, zwei, drei Entscheidungen

Wie oft habe ich mich schon gefragt “Was wäre gewesen, wenn?” Wie viel Zeit habe ich verbracht mit dem Phantasieren über meine virtuellen Biografien? Normalerweise erhält man auf derlei Hirngespinste keine Antwort. Wie oft hat uns eine Entscheidung das Leben gerettet? Wie viele Wendungen hat das Leben genommen, weil wir anderswo abgebogen, nicht mehr über die blinkende Ampel gefahren oder dem Bus hinterhergelaufen sind oder zwei Minuten später das Haus verlassen haben?

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Der Montagabend vor dem Lockdown oder: Schüsse in Wien

Es war ein Tag, an dem der Stress in Wellen kam. Der Montag vor dem Lockdown. Ambulanzdienst. Alles für den unerwarteten Notbetrieb vorbereiten. Mails schreiben. Den ganzen Tag läuten alle Telefone. Ein bunt zusammengewürfeltes Team am Vormittag, ein etwas eingespielteres Team am Abend. Ein bisschen Zeit zum Durchatmen im 5. Stock. Ein bisschen recherchieren wohin es in der Zukunft gehen sollte. Hm, noch etwas zu Abend essen? Oben ist jetzt alles zu, eigentlich könnte ich gehen, als ich durchs Stiegenhaus runter laufe höre ich Stimmen, oh, sie sind dann wohl schon weg. Soll ich gleich gehen? Nein, ich schaue ob V. doch auf mich gewartet hat. Anscheinend waren es andere Stimmen. Es findet noch der letzte Trubel statt, ein paar Akten verräumen, Licht aus. Fünf Minuten später. Raus raus, schnell, alle wollen nachhause, ein flüchtiges Ciao, bis bald, wir sehen uns, auch wenn keiner weiß wann, weil wir nur in sehr reduzierter Zahl Dienst haben werden die nächsten Wochen, keiner weiß wie lange, ein seltsames Gefühl. Es ist 20:05.

Wir gehen los, alle zehn von uns in unterschiedliche Richtungen. Ich zuerst geradeaus, bis mir einfällt, dass ich ja links abbiegen muss. Im Hintergrund hatte ich schon ein Knallen gehört, aber nicht bewusst wahrgenommen. Wir leben in einer Großstadt, da gibt es öfter solche Geräusche. Die Bim steht da, Mist, schon wieder verpasse ich sie, egal, es ist schon spät, ich will nicht laufen, es ist ungewöhnlich schwül an diesem Montagabend im November. Oh, die Ampel ist rot, na dann hopp hopp, ah, da vorne ist noch eine Kollegin, da kann ich auch noch schnell in den Waggon springen.

Die Türe ist offen. Am Boden liegt ein Mann. Menschen sitzen herum. Es wirkt alles normal. Wieso liegt er am Boden? Er hat eine gelbe Jacke an. Glaube ich. Eine gelbe Jacke und ein großes Instrument, ein Cello, einen Kontrabass, in einer beigen Hülle. Er liegt am Boden und ist wach, wieso steht er nicht auf? Seine Augen sind offen, er bewegt sich, glaube ich, oder? Ich steige nicht ein, ich denke, die Bim wird nicht weg fahren und auf die Rettung warten wenn ein medizinischer Zwischenfall passiert ist, hm, blöd. Es sind genug Menschen da, ich denke dass alles wohl schon soweit geregelt ist. Das Blut sehe ich nicht.

Das alles spielt sich vermutlich in Bruchteilen von Sekunden ab. Auf einmal packt mich meine Kollegin am Ärmel. Hier wurde geschossen. Im nächsten Moment höre ich es. Es knallt zwei mal, glaube ich. Der Mann wurde erschossen! Was? Der liegt doch nur da und ist wach? Neben uns eine alte Frau, wo kam sie her? Ich weiß es nicht. Sie sagt etwas von Männer (ich glaube im Plural) haben geschossen. In die Bim geschossen? Ich kann mich nicht erinnern. Sie sind Richtung Schwedenplatz gelaufen. Mein Hirn selektiert Informationen. Ich schaue Isabella an. Meine Augen sagen „weg hier!“ und ich sage nur: „Rennen?“ Und wir rennen los. „Wohin?“ „Ich weiß nicht, weg hier! Durch die Gassen? Wo nicht viel los ist, zum Volkstheater?“ In dem Moment will ich nur weg von überall dort, wo Menschenansammlungen sein können. Ein paar Sekunden später knallt es wieder. Jetzt wissen wir es, es sind Schüsse. Zwei mal? Vier mal? Keine Ahnung. Die Schüsse kommen auf jeden Fall aus unterschiedlichen Richtungen. Weiterlaufen ist keine Option, wir wissen nicht, wo die Täter sind, wie viele es sind. Aber sie sind heroben. Sie schaut mich an. „Ubahn?“ Ich überlege schnell, Ubahn erscheint mir riskant, aber schnell. Und ich will weg. Mir ist klar, wenn wir jetzt hier nicht wegkommen, werden wir festsitzen, die Stadt wird abgeriegelt werden und das ertrage ich nicht, soviel ist mir klar in diesem Moment. Auch wenn ich weiß, dass es gefährlich ist, auch wenn ich weiß, dass die Entscheidung, die ich gerade so oder so treffe, schiefgehen kann, entscheide ich mich dafür, zu laufen.

Wir haben Glück, endlich, einmal. Ich danke jeder verpassten Ubahn, über die ich mich geärgert habe dafür, dass diese jetzt da war und wir gerade noch hinein springen konnten bevor sie losfuhr.

*

Am Montag Abend gab es in Wien einen Terroranschlag, bei dem um 20:04 die ersten Schüsse fielen, ca. 50 m von dem Ort, an dem ich um 20:05 auf die Straße kam. Wie knapp ich dem entkommen war, vielleicht selbst dem Täter gegenüberzustehen, wurde mir erst Stunden später bewusst. An diesem Tag hatte ich Glück im Unglück. Jede einzelne Entscheidung, die ich getroffen hatte, hat mich letztendlich in Sicherheit geführt. Andere Menschen mussten stundenlang festsitzen, warten, in der Ungewissheit, wie es für sie ausgehen würde. Die Meldungen waren chaotisch. Es war zwischenzeitlich von mehreren Tatorten die Rede. Geiselnahmen. Sprengstoffgürtel. Vieles davon stellte sich am Ende als falsch heraus. Doch das hilft den Menschen nicht, die diese Angst erlebt haben.

Wir haben Staatstrauer in Wien. Während sich die einen nicht mehr wirklich vor die Türe trauen, geht für die anderen das Leben ganz normal weiter. „Normal“ – so normal es während einem Lockdown light und einer Pandemie eben möglich ist.

Gute Nacht, 2020.